Energietankstelle Natur

06.01.2021

Ist Natur die beste Medizin für Körper und Geist? Wie sehr fördert sie das Wohlbefinden? Und was kann Waldbaden leisten? Ein Selbstversuch in drei Anläufen und zehn Lektionen.

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Feeling blue? Touch green!

Ist Natur die beste Medizin für Körper und Geist? Wie sehr fördert sie das Wohlbefinden? Und was kann Waldbaden leisten? Ein Selbstversuch in drei Anläufen und zehn Lektionen.

Echt jetzt? Ich soll Waldbaden ausprobieren und eine Reportage darüber schreiben? Dieser Auftrag hat’s in sich! Denn ehrlich gesagt habe ich Waldbaden immer ein bisschen belächelt, vom hohen Natursportler-Ross herab. Als Entspannungstechnik für verträumte „Baumumarmer“. Vielleicht, weil meine Esoterik-Warnlampe ziemlich bald zu blinken anfängt. Wo andere Bäume umarmen und Energieflüsse spüren, da fühle ich nur: Rinde. Bei mir gewinnt meist das Rationale gegen das Spirituelle.

Gesucht: Atempause statt Fast-Forward

Andererseits: Ein bisschen Ballast abzuwerfen täte meinem Leben schon gut. Mein Kopf gleicht einem Briefkasten ohne Nachsendeauftrag: Jeden Tag wird noch mehr hineingestopft. Alles wird immer mehr. Nur die Zeit nicht, die für mich selbst übrigbleibt. Und sogar in der spärlichen Freizeit: Fast Forward statt Pause-Taste. Man will ja nichts verpassen. Fest steht: Gesund ist das nicht. Kann eine Atempause helfen? Mehr Natur? Beides? Vielleicht sogar Waldbaden? Als Exit-Strategie, um rauszukommen aus dem Hamsterrad, in dem ich rastlos Milestones, Deadlines, Bucketlists nachhechle – und dem nervtötenden „Pling!“, das ständig neue E-Mail-Nachrichten ankündigt? Immerhin soll Waldbaden ein Jungbrunnen für Körper und Geist sein. Eine Ladestation für Leute mit leerem Energie-Akku. Und das Konzept klingt bestechend simpel: Einfach rausgehen und den Wald mit allen Sinnen aufnehmen. Also bloß ein neues Etikett für ganz normale Waldbesuche? Nein, denn Waldbaden will zusätzlich die Heilwirkungen des Waldes gezielt verstärken – mit einfachen Übungen aus den Bereichen Atmung und Meditation, Achtsamkeit, Sinneswahrnehmung und Kreativität. Waldbade-Vorreiter ist übrigens Japan. Dort vertrauen zahllose Menschen seit Jahrzehnten darauf, dass bewusste Aufenthalte im Wald Gesundheit, Erholung und Wohlbefinden fördern. Fragt sich nur: Zurecht? Schwer zu sagen. Denn die Forschungslage zum Waldbaden ist so unübersichtlich wie der kürzeste Weg durch ein schwedisches Möbelhaus.

Natur: Heilmittel mit Breitbandeffekt

  • Lektion Nr. 1:  
    Wenn du wo nicht durchblickst, frage jemanden, der sich auskennt. Arnulf Hartl zum Beispiel. Er beschäftigt er sich an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg intensiv mit der Gesundheitswirkung der Natur. Ja, bestätigt er, die Natur tue dem Menschen tatsächlich gut, sowohl vorbeugend als auch im Krankheitsfall. Sie stärke das Immunsystem, das Herz-Kreislaufsystem und die Lungenfunktion. Sie reduziere aber auch Stress, Blutdruck und Blutzucker, helfe gegen Allergien und Asthma. „Das alles kann man aus wissenschaftlicher Sicht mit gutem Gewissen behaupten“, sagt Hartl. „Vor allem, wenn der Aufenthalt in der Natur ein aktiver ist. Je mehr wir uns bewegen, desto gesünder sind wir. Und Bewegung in der Natur ist überhaupt das Beste, was man machen kann.“

Aber nicht nur der Körper, auch die Psyche profitiert: „Natur ist stimmungsaufhellend“, erklärt Hartl, „naturverbundene Menschen sind zufriedener mit ihrem Leben.“ Das Erstaunliche dabei: Schon die Vorfreude wirke gesundheitsfördernd, allein der Anblick der Natur reiche aus. Vermutlich hängen wir uns deshalb Naturfotografien ins Wohnzimmer, stellen Zimmerpflanzen ins Büro, nehmen im Urlaub das Zimmer mit Meerblick.

  • Lektion Nr. 2: 
    Die Natur dient dem Körper als unterschwelliges Fitnessprogramm, Antidepressivum und effektives Heilmittel – kostenlos, rasch und ohne Krankenschein.

Waldbaden: Am Holzweg?

Und das Waldbaden? „Dazu gibt es in Europa keine medizinische Evidenz“, dämpft Arnulf Hartl die Erwartungen. Viele Untersuchungen zum Waldbaden stammen aus Ostasien. Manche davon entsprächen nicht wissenschaftlichen Kriterien. Bei anderen sei zweifelhaft, inwieweit sich die Erkenntnisse aus tropischen Küstenwäldern auf den mitteleuropäischen Wald übertragen lassen. Die Beweislage ist offenbar (noch?) dünn. Was also tun? Bin ich mit dem Vorsatz, unter Bäumen zu baden, also am Holzweg?

  • Lektion Nr. 3: 
    Wenn man in der Theorie nicht mehr weiterkommt, sollte man zur Praxis übergehen. Ein Waldbade-Test ist angesagt.

Erster Anlauf: nichts denken ist denkbar schwierig

Gesagt, getan. Ich liege unterm Blätterdach. Was heute anders ist als sonst: Ich bin nur zum Entspannen im Wald. Kein Wandern, kein Radfahren, kein Joggen. Das Ziel: Die Natur intensiv wahrnehmen und an nichts Bestimmtes denken. Und was könnte entspannender sein als einfach nur am Waldboden zu liegen?

Zwei Stunden später habe ich folgende Dinge gelernt:

  • Lektion 4:
 
    Bade abseits der üblichen Wanderwege! Denn vermeintlich zweckfreies Herumliegen im Wald führt bei Passanten zu Irritation. Würde ich dagegen mit neonfarbener Laufkleidung und purpurrotem Kopf durch den Wald prusten, würde sich keiner nach mir umdrehen. Was auch einiges aussagt über unsere gesellschaftliche Einstellung zu Leistung und Erholung.
  • Lektion 5:
    Denkdiät ist denkbar schwierig. Weil derart viel ablenkt: Wolken, in deren Umrisse ich Dinge hineininterpretiere. Eichelhäher, die laut schimpfend Krawall schlagen. Und ganz besonders: das eigene Kopfkino. Im Job sind wir so lange darauf gedrillt worden, mehrere Dinge zugleich zu denken, dass wir es nun nicht mehr schaffen, gar nichts zu denken.

Fazit: 
Waldbaden scheint schwieriger zu sein als angenommen. Was mich zu Lektion Nr. 6 bringt: Vielleicht habe ich mir einfach zu viel vorgenommen für meine Waldbade-Premiere. Instant-Entspannung spielt es offenbar nicht. Ich muss wohl geduldiger sein. Oder mache ich etwas falsch?

Was bringt ein "Waldbademeister"?

„Nicht unbedingt“, sagt Ulli Felber. Sie ist Waldbade-Trainerin und -Buchautorin in der Steiermark. „Die einen finden sehr schnell ins Waldbaden rein, die anderen brauchen eben etwas länger. Es geht dabei aber nicht nur ums Stillsitzen. Wer noch nicht zur Ruhe kommt, kann Waldbaden auch mit Aktivität verbinden.“

Und wozu braucht’s zum Waldbaden einen Trainer, der einen anleitet, einen „Waldbademeister“ sozusagen? „Mit ihm kann man noch tiefer eintauchen“, erklärt Ulli Felber. „Er hilft zum Beispiel, aus den vielen Waldbade-Methoden jene zu finden, die am besten zur eigenen Zielsetzung passen: Will man einfach mal abschalten oder seiner Gesundheit Gutes tun?“ Worauf aber alle Übungen abzielen: Langsamkeit, Wahrnehmen, Genuss. „Vielleicht hättest du dir bei deinem Versuch mit etwas Inspiration durch einen Trainer auch leichter getan“, meint Ulli. Und sie ergänzt: „Allerdings ist Waldbaden bei uns so jung, dass es nach wie vor nicht geschützt ist. Das heißt, jeder kann Seminare anbieten. Da zahlt es sich schon aus, nachzuforschen, ob der Anbieter eine einschlägige Ausbildung hat.“

In jedem Fall ist Ulli Felber überzeugt, dass Waldbaden wirkt. Um erst gar nicht in Esoterikverdacht zu geraten, legt sie Wert darauf, dass die wissenschaftliche Untermauerung des Waldbadens „noch Goldstandard erreicht“. Hoffnungen setzt sie in eine groß angelegte Studie an der Charité in Berlin mit 600 Teilnehmern. An ihnen will der Arzt Andreas Michalsen im Jahr 2021 erproben, welche Heilkraft Naturaktivitäten besitzen, bei denen Bewegung nicht im Vordergrund steht. Und wie eine wirkungsvolle Vorgangsweise beim Waldbaden in Mitteleuropa aussehen könnte.

Mein Eindruck nach dem Gespräch: Diese Frau steht selbstbewusst hinter dem, was sie tut. Und voll im Leben. Von esoterischer Baum-Umarmerin keine Spur. Das ist die Lektion Nr. 7. Als Lektion Nr. 8 nehme ich mit: Man muss beim Waldbaden nicht regungslos verharren.

Zweiter Anlauf: im Tun loslassen

Also noch einmal raus in den Wald, diesmal mit speziellen Waldbade-Übungen. Ich gehe barfuß über Moos und Fichtennadeln, spüre bewusst den Untergrund. Ich schlendere unter Baumkronen und wende dabei spezielle Atemtechniken an. Und als ich auf einer kleinen Lichtung ein Mandala aus Naturmaterialien lege, habe ich erstmals das Gefühl loszulassen und im Tun aufzugehen. Ohne vorgefasstes Ziel, wie Kinder beim Spielen. Voll eingetaucht bin ich zwar noch nicht ins Waldbaden, aber es fühlt sich schon eindeutig besser an. Na bitte, geht doch!

Lektion Nr. 9:
Offenbar bin ich tatsächlich der Typ, der bei Aktivität leichter abschalten kann. Und am besten funktioniert es, wenn man dabei die Dinge einfach passieren lässt, ganz ohne Erwartung.

Dritter Anlauf: das Etikett ist egal

Einen Tag später mache ich Pause vom Waldbaden, es steht wieder der Sport im Vordergrund: Ich bin beim Bergsteigen unterwegs, meiner liebsten Freizeitbeschäftigung. Alles ist wie immer: Almsonne, Kuhgebimmel, Harzduft, Bachgurgeln. Und siehe da: Das, was mir beim Waldbaden schwerfiel, gelingt mir hier mühelos: Nach wenigen Schritten bin ich im Flow. Mein Hirn geht sofort auf Standby. Dennoch sind meine Antennen sind auf Empfang, die Sinne geschärft – aber eher beiläufig, ohne dass mich jede Kleinigkeit gleich ablenkt. Und das Beste: Ständig kommen mir inspirierende Gedanken. Einfach so, ohne bewusst über etwas nachzudenken. Keine Ahnung wieso, aber es funktioniert. Vielleicht, weil ich bei dieser Methode zum Abschalten einfach schon mehr Übung habe.

Es beschleicht mich der Verdacht, dass die alles entscheidende Lektion – sie wäre dann die Nr. 10 – ganz einfach ist: Nimm das „Heilmittel Natur“ ein, wie du willst. Gehend, sitzend, liegend, meditierend, lesend – einerlei. Mach Sport oder bade im Wald. Nenn‘ es, wie du willst. Nimm einen Trainer oder nicht. Aber geh‘ raus in die Natur. So gut wie jeder Aufenthalt dort wird deiner Gesundheit guttun. Soviel scheint gesichert.

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